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er die Formel: Aufsteigen, Höhepunkt, Niedergang; da nun Hugos dichterische Werke in diese Schablone sich nicht einzwängen lassen, so spricht Lindau dem unbotmässigen Dichter die „regelrechte Entwickelung" ab und behauptet, er habe nur bei Beginn seiner Laufbahn in der Poesie einen wirklichen Fortschritt gemacht (so zu lesen in Nord und Süd, Juli 1877, S. 79). Den einzigen Fortschritt weisen allenfalls die Feuilles d'automne auf, mit denen für Lindau auch die Kenntnis der Hugoschen Gefühlslyrik so ziemlich aufhört. Zwar scheint er von der Existenz der 1856-1858 veröffentlichten Contemplations etwas gehört zu haben; da er aber dieses auch in Deutschland einstimmig als das reifste Produkt der Muse Hugos anerkannte Werk mit drei Zeilen abthut und in ihm eine „stärkere Ermattung" erkennt (a. a. O. pag. 209), so dürfen wir getrost annehmen, dass Herrn Lindau Zeit oder Lust gefehlt hat, die zwei Bände wirklich zu studieren.

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Diese Vermutung wird durch einen anderen Irrtum Paul Lindaus bestätigt. Begreiflicherweise ist die Mehrzahl der im Decennium 1830-1840 veröffentlichten Gedichte einige Jahre vor der Drucklegung entstanden. Lindau verwechselt aber Entstehungszeit und Erscheinungsjahr und baut auf diesen falschen Prämissen thörichte und mit bekannter Dreistigkeit vorgetragene Rückschlüsse auf. Namentlich zieht er wegen der einzelnen Überschriften zu den lyrischen Sammlungen Victor Hugo zur Rechenschaft und findet es undenkbar, dafs ein Dichter sagen wir ein Jahr lang" sich beständig in derselben Stimmung erhalte. „,Kann man sich", fragt er a. a. O. (pag. 85), „einen Dichter vorstellen, der in einem Jahr einige hundert Lieder (sic!) über das Glück der Familie, über die Freude des Vaters schreibt und der, wenn diese Arbeit abgeschlossen ist, sich nie wieder veranlafst fühlen sollte, der Zärtlichkeit etc. ... einen Ausdruck zu geben, einfach deshalb nicht, weil er dies Geschäft schon ein Jahr lang mit Ausdauer betrieben hat? ... Bei den Herbstblättern' rückt das Programmmäfsige, die Verherrlichung der Familie, schon mehr in den Vordergrund: die Dämmerungsgesänge sind aber bereits ganz und gar aus einer festgestellten

vorschriftsmäfsigen Stimmung heraus unter beständiger Rücksichtsnahme auf die Übereinstimmung mit dem bestimmenden Titel entstanden."

Diese mit verblüffender Sicherheit hingeworfenen Behauptungen zeigen klar, dass Lindau erstens die Contemplations (1856) nicht kennt von l'Art d'être Grand père zu schweigen, das einige Monate vor dem Lindauschen Artikel erschien

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und zweitens

das Datum der einzelnen Gedichte überhaupt nicht angesehen hat. Denn die jeweils in den Gedichtsammlungen sich äussernde Stimmung dauert nicht ein Jahr, um urplötzlich einer anderen Platz zu machen, sondern die vier Sammlungen durchdringen sich gegenseitig und enthalten insgesamt Lieder aus je vier bis fünf Jahrgängen. Die Feuilles d'Automne sind zum Teil gleichzeitig mit den wildesten Orientales und reichen bis Ende 1831; neben jenen entstehen die ersten Chants du Crépuscule; in die Jahre 1834 und 1835 fallen aufser der Hälfte derselben noch die ältesten Lieder aus den Voix intérieures, und das Hauptjahr der letzteren, 1837, hat sieben von den 1840 herausgegebenen Rayons et Ombres erzeugt. Die Contemplations aber erstrecken sich über den weiten Zeitraum von zweiundzwanzig Jahren (1834-1856). Auch ohne diese äusseren Daten verbietet ein Blick auf den Inhalt einzelner Dichtungen die Annahme, als habe der Dichter einer steten Berücksichtigung des gewählten Titels seine poetische Stimmung untergeordnet. Manches Lied voll innigsten Gefühls aus den „Chants du Crépuscule" gehörte besser in die Herbstblätter, und umgekehrt, weil beide Sammlungen, in nebeneinander laufender Geistesarbeit erzeugt, inhaltlich eng zusammen gehören.

So wird in Litteraturgeschichte gemacht, und solche leichtfertige Redensarten finden im deutschen Publikum gläubige Nachbeter. Zum Glück findet sich hin und wieder ein Sachkundiger, der diesen fürwitzigen Kritikern auf die Finger klopft. Wie für Lindau gemacht sind die Worte des Professor Koschwitz in Greifswald:* „Eine so reiche Kollektion von ganz oder halb unrichtigen Angaben, verbunden mit solcher Sicherheit des Behauptens der unsichersten oder irrtümlichsten Dinge,

* Diese Worte finden sich bei der Besprechung der Engelschen Litteraturgeschichte (Deutsche Litteraturzeitung 1883, Nr. 14, pag. 486). Auf

sollte sich selbst der flotteste und unverfrorenste Litteraturbursche nicht gestatten."

Derlei Elaboraten gegenüber erscheinen Werke wie das von G. Brandes über die romantische Schule (5. Band der Litt. des 19. Jahrh. in ihren Hauptströmungen, Leipzig 1883) noch wertvoller, als sie an und für sich sind. Georg Brandes hat unseres Erachtens die poetisch-politische Physiognomie des jugendlichen Messias der französischen Lyrik in ganz meisterhafter Weise gezeichnet. Dafs der königgewordene Dichter der späteren Periode etwas zu kurz kommt, thut dem ganzen Bilde keinen Eintrag: den streitbaren Propheten und Wortführer der Jugend stellt Brandes mit Recht höher als den Stoiker von Jersey und Guernesey. (Vgl. J. Sarrazin, Zeitschr. für nfrz. Spr. V, 162 bis 172.)

Ein ausführliches Essay von Honegger (V. Hugo, Lamartine und die franz. Lyrik des 19. Jahrhunderts, Zürich 1858; vgl. Archiv XXII, 439) hat nach dreifsig Jahren seinen vollen Wert behalten, auch trotz mancher schiefen politischen Ansichten und trotz einer Überfülle schätzenswerter Materialien, welche den Überblick über das Ganze erschwert. Verfasser hat dasselbe in seiner Abhandlung über Victor Hugos Lyrik dankbar benutzt.

Am wertvollsten sind wohl unter den zahlreichen Zeitschriftenartikeln der neuesten Zeit: Rud. Gottschall (Unsere Zeit 1882, 817 ff.) und Th. Zolling (Gegenwart 1885, Nr. 23 u. 24); von den durch den Tod des Dichters veranlafsten Rückblicken ist der von Martin Hartmann (Franco-Gallia 1885, pag. 187 bis 200) weitaus der anziehendste und bedeutendste. Diese tüchtigen Leistungen wiegen denn auch das Gewäsch Lindaus hundertfach auf. Es giebt in Deutschland noch Männer, die von nationalen Vorurteilen unbeirrt die gewaltige Gröfse des Franzosen Victor Hugo zu überschauen und zu würdigen vermögen. Und Hugo ist nicht allein Frankreichs Stolz und Ruhm, sondern - wie Hartmann treffend sagt zugleich auch ein kostbarer Besitz der gesamten Menschheit.

Engel angewendet, sind sie, trotz einiger Mängel des Abschnitts über altfranzösische Litteratur, viel zu hart. Vergl. Krefsner, Gallia I, 202 ff. und 363 ff.; Heller, ibid. 273 ff.; auch Archiv LXXII, 442 ff.

Beurteilungen und kurze Anzeigen..

A. Caumont, Goethe et la Littérature française. Programm des städt. Gymnasiums zu Frankfurt a. M. 37 S. 4.

Allen Werken über Goethe und Schiller kann der Vorwurf gemacht werden, dafs sie zu wenig auf die Beziehungen dieser Geisteskoryphäen zum Auslande hinweisen und namentlich den Einflufs französischen Geistes und französischer Litteratur auf ihre ganze Entwickelung nicht genügend hervorheben. Ein günstiges Geschick bringt uns mit dem diesjährigen Programmsegen zwei ausgezeichnete Arbeiten, die diese Lücke vorläufig ausfüllen. Prof. O. Schanzenbach hat im Stuttgarter Programm (Eberh.Ludw.-Gymn.) die französischen Einflüsse auf Schiller nachzuweisen gesucht, Oberlehrer A. Caumont in vorliegender Arbeit die Beziehungen Goethes zur französischen Litteratur klar beleuchtet. Inhaltlich sind beide Arbeiten ebenbürtig; was die Form anbelangt, dürfte Schanzenbach den Vorzug verdienen, obgleich, oder vielmehr weil er das französische Kleidchen für seine Darstellung verschmäht hat. Zwar wäre man viel zu streng, wollte man von Caumonts französischem Stil das sagen, was mit Recht von Goethes französischer Korrespondenz (vgl. Bernays) behauptet wurde; aber es läfst sich nicht leugnen, dafs trotz einer erfreulichen Gewandtheit in der Handhabung des fremden Idioms, Caumonts Stil erhebt sich hoch über alle bisherigen französisch geschriebenen, von Plattner, Klöpper, Sarrazin u. a. teilweise übel zugerichteten Abhandlungen und liest sich aufserst angenehm, der Verfasser an einigen Stellen sich als Nichtfranzosen verrät. Wir sehen ganz ab von Kleinigkeiten, wie von der ängstlichen Einschliefsung der Adverbialbestimmung in Kommas, die ihre freie Bewegung innerhalb des Satzes hindern, oder pourtant nach einem Konzessivsatze (pag. 12) u. dgl. und verzeichnen einfach die wenigen Stellen, die gegen den Geist des französischen Idioms zu sündigen scheinen. Mögen die Leser selbst urteilen:

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Pag. 6: persuadé de ne pas s'inscrire son auditeur. pag. 5: il en trouva une (se. occasion) dans la fréquentation du culte réformé qui se tenait à Bockenheim. pag. 12: une influence, moins grande, sans doute, mais plus décidément française, que subit Goethe, fut celle de Gotter, qu'il rencontra à Wetzlar. (NB. Wir behalten des Verf. Interpunktion bei.) pag. 14: Il vit même bientôt que cette attention aux choses frç était d'autant plus commandée, qu'elle rentrait dans la tradition du lieu. pag. 24: Quand donc le Premier consul Bon., irrité de l'opp. secrète que lui faisait cette femme qu'il avait etc...., l'envoya en exil, c'est le chemin de l'All. qu'elle prit aussitôt. Ferner ist Goethes Barbarismus „cela approche très près à

celle des singes" nicht ganz richtig mit de très près de korrigiert; pag. 25 mufs es heifsen nous autres Allemands, pag. 26 se prononçait; pag. 13 ist nach sans doute das que zu streichen. Ob man sagen kann préjugés à l'égard, möchte Ref. bezweifeln.

Es sind also für eine Arbeit von fast fünf komprefs gedruckten Bogen nur wenige Anstösse zu verzeichnen, über welche die meisten Leser sicherlich ungehindert hinweggehen werden. Wir dürfen daher Caumonts Abhandlung, deren geistiger Inhalt bereits anerkannt ist, auch als eine stilistische Leistung bezeichnen, die dem Verfasser und seiner Sprachkenntnis alle Ehre macht.

E. Beckmann, Anleitung zu französischen Stilübungen. Programm des Realgymnasiums zu Altona 1885. 36 S. 4.

Diese Abhandlung scheint für Schüler geschrieben zu sein, an welche die Notwendigkeit herantritt, französische Aufsätze zu schreiben. Sie wird auch dieselben selten im Stiche lassen; denn die Arbeit ist offenbar aus langerer Praxis hervorgegangen. In 117 Paragraphen hat Beckmann versucht, den ganzen phraseologischen Stoff, der naturgemäfs häufig aus der Grammatik bekannt ist, zusammenzudrängen und die zweifelhaften Fälle durch kurze Beispiele zu erläutern. Bei aller Reichhaltigkeit der Verzeichnisse, sind, besonders im Abschnitt über die Substantiva, noch Nachträge notwendig so fehlen bei den Substantiven, deren deutsches Aquivalent im Geschlechte abweicht, häufige Wörter wie un étage, le matelas etc. Bei il est bien hätte die zweite, volkstümlichere Bedeutung (=er sieht elegant aus, hat nette Manieren etc.) Erwähnung verdient, ebenso bei Behandlung der Neutra meilleur und mieux auch ein Hinweis auf pire und pis stattfinden dürfen (qui pis est etc.). Ferner fehlen bei den Briefformeln Anreden wie Monsieur et cher collègue und Schlufsphrasen wie mes civilités.

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Das Werkchen ist einer weiteren Verbreitung entschieden würdig und sollte den Schülern der Oberklassen zugänglich gemacht werden.

Lanfrey, Histoire de Napoléon, herausgegeben von F. Ramsler. Zweite Auflage. Berlin, Weidmann, 1885.

Es ist zwar eine Ehre für jeden Autor oder Kommentator, wenn ein anderer sein geistiges Eigentum sich teilweise aneignet und er damit direkt oder indirekt auf die Umgestaltung dieses oder jenes Werkes einwirkt, aber es ist unbillig, dafs diese Aneignung verstohlen und von aller Welt ungekannt vor sich geht. Der Unterzeichnete kann wenigstens nicht umhin, gegen ein derartiges Verfahren zu protestieren. „Je ne me laisserai pas

écorcher sans crier."

Vor sechs Jahren erschien bei Weidmann vom bekannten Lanfreyschen Geschichtswerke der Abschnitt über den Feldzug von 1806-7 in Schulausgabe. Die Leistung war eine erbärmliche, der Kommentar eine gewöhnliche Fabrikarbeit, die nicht nur auf Ramslers Kenntnisse, sondern auch auf seine Akribie bedenkliches Licht warf. Er schulmeisterte am Stile des Autors herum und schob ihm ungeheuerliche Konstruktionen unter. Welche Anforderungen dieser Kommentator an die geistige Arbeit seiner Schüler stellte, sei einfach damit konstatiert, dafs bei jedem Relativsatz mit dont aus der Unterwelt die unheimliche Mahnung ertönte: „Beachte die Wortstellung!" O. Ulbrich hat in seiner Abhandlung über die französische Schullektüre wir entnehmen derselben die unheimlichen Worte aus der Unterwelt auch diese Lanfrey-Ausgabe des Herrn Ramsler zur Exemplifizierung seiner Behauptung gewählt, dass unsere Interpretations

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