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15 Sept. 1890.

Mæring Bequest,

Die Auswanderung

in nationalökonomischer, polizeilicher und staatsmännischer Rücksicht.

Die Ursachen der Auswanderung.

Die Heimatliebe liegt so tief begründet im Herzen jedes Menschen, daß sie nur schwer und nicht ohne Schmerzen herauszureißen und zu entwurzeln ist. Wo dies dennoch geschieht, da sind in der Regel äußere zwingende Verhältnisse, das Elend, physische oder geistige Noth, Körper- oder Seelenleid mit im Spiele. Wer die Heimat mit dem Gedanken, nie mehr zurückzukehren, verlassen soll, der muß zu diesem Entschluffe durch eine Art Verzweiflung an seinem Geschicke im eigenen Va terlande gezwungen werden. Die Wanderlust, wie stark sie auch den Jüngling oft hinauszieht und treibt, würde ziemlich sicher nur höchst selten die Probe eines Ab schieds,,Auf Nimmerwiedersehen!" auszuhalten im Stande sein. Wer diesen Ab, schied aber aushält, der geht gewiß mit zerrissenem Herzen in die weite Welt hinaus. Wie aber Elend, Noth und Leiden die Treiber der Auswanderung sind, so ist die Hoffnung auf Glück und Wohlstand der Zieher zur Einwanderung in eine andere Heimat. Nur wo beide zusammenwirken, wo Treiber und Zieher in größerm oder geringerm Maßstabe, für Einzelne, für Viele, für Glaubensgenossenschaften, für ganze Schichten des gesellschaftlichen Lebens, für Völker und Welttheile, zugleich am Werke sind, da findet Auswanderung und Einwanderung in geringerm oder größerm Maßstabe naturgemäß und unwiderstehlich statt.

Die Noth, die zur Auswanderung treibt, kann aber sehr verschiedener Natur sein. Die Unzulänglichkeit, die physischen Bedürfnisse des Lebens zu befriedigen, treibt in erster Linie zur Auswanderung, die Unmöglichkeit den geistigen Bedürfnissen Genüge zu thun, vielleicht noch gebieterischer, wenn auch nicht in demselben massenhaften Umfange.

Eine mehr oder minder allgemeine Auswanderung ist in der Regel nur_Folge der übervölkerung des einen und zugleich der Untervölkerung eines andern Landes oder Welttheils. übervölkerung und Untervölkerung sind aber keine absoluten, sondern relative Begriffe, die vor allem von der Culturstufe, auf der ein Volk steht, abhängen. Jagd, Viehzucht, Ackerbau und Industrie sind die vier großen Cultur stufen des gesellschaftlichen Lebens der Völker. Von den Jägervölkern bis zu den Industrievölkern hinauf verengt sich in raschen und großen Abfäßen der Raum, dessen die Menschen bedürfen, um darauf ihren Unterhalt zu finden. Wo ein ganzes Volk mit Millionen Menschen bei geordnetem Ackerbau, Handel und Industrie leben kann, finden kaum ebenso viele Hunderttausende Plas, die nur Ackerbau treiben; höchstens ebenso viele Tausende können hier von der Viehzucht allein leben, während Die Gegenwart. XI.

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nur einzelne Horden sich auf demselben Naume von der Jagd zu ernähren im Stande sind. Als die ersten Europäer in Amerika landeten, fanden sie das Land im Verhältniß zu Europa fast leer, und dennoch übervölkert; und am meisten übervölkert gerade dort, wo es am leersten war, d. h. da, wo Jägerhorden allein sich den Raum, auf den fie zur Jagd angewiesen waren, streitig machten, wo der Stärkere immer den Schwächern, ihn, dem Wilde gleich, mit der zerschmetternden Keule, mit dem tödtenden Pfeile bedrohend, zur Auswanderung zwang.

Die unmittelbarste und sicherste Abhülfe gegen die relative übervölkerung der tiefern Culturstufen ist die Einführung der Beschäftigung einer höhern Culturstufe. Sobald der Jäger anfängt Viehzucht zu treiben, der Hirte den Acker zu bauen, der Ackerbauer Industrie einzuführen, erweitert sich unmittelbar der zu enge Raum, und erlaubt Hunderten dort zu leben, wo vorher Einzelne nicht bestehen konnten. So kann der Fall eintreten und tritt sehr oft ein, daß Einwanderung und nicht Auswanderung - das erfolgreichste Mittel gegen übervölkerung wird. Industrielle, die zu Ackerbauenden, Ackerbauer, die zu Hirten, Hirten, die zu Jägern einwandern, heben die relative Übervölkerung auf, indem sie das Mittel bringen, das Zehn oder Hunderte oder Tausende auf derselben Stelle nährt, wo vorher einige Menschen nur kümmerlich lebten oder Hungers starben.

Die natürliche Übervölkerung hängt also in erster Linie nicht von der Zahl der Bewohner des Landes ab, sondern von der Culturstufe, auf der die Bevölkerung steht, von der Beschäftigung, durch die sie ihren Lebensunterhalt erwirbt. Erst auf der höchsten Stufe der gesellschaftlichen Entwickelung, bei den Culturvölkern, wo Handel und Industrie, Ackerbau und Viehzucht in voller Harmonie das höchste Ziel erreicht haben, wo infolge dieser höchsten Entwickelung alle Kräfte des Landes und der Bevölkerung in Thätigkeit sind, und alle Mittel zum Unterhalt und zur Ernährung des Volks, die das eigene Land bietet, die das Ausland dem Handel und der Industrie zollt, ausgebeutet werden, kann am Ende vielleicht eine absolute Übervölterung eintreten. Wir sagen absichtlich: vielleicht! denn bisjest ist eine wahre absolute Übervölkerung nur höchst ausnahmsweise an einzelnen unter ungünstigen Bedingungen stehenden Ländern und Landestheilen eingetreten; und überall, wo eine folche Sonst eingetreten zu sein scheint, ist sie in der That nur relativ, das heißt, wenn nicht Folge einer tiefern Culturstufe, doch Folge einer regelwidrigen, unnatüre lichen Entwickelung der Kräfte gewesen. Auf der höchsten Culturstufe nämlich müssen sich Industrie und Handel, Ackerbau und Viehzucht in vollem Einklang entwickeln, wenn die Gesellschaft nicht durch das Stocken des einen Zweiges der gesellschaftlichen Thätigkeit in allen andern leiden, und dann natürlich ein Theil der Bevölkerung kümmern und verkümmern, und so theilweise, zeitweise, örtliche übervölkerung eintreten soll.

In China lebt auf einem Zehntheil der Erde fast ein Drittheil aller Erdbewohner; die Bevölkerung ist hier gedrängter als in irgendeinem Lande der Welt; Elend und Hungersnoth treten hier auch oft massenweise ein; aber doch immer im Verhältniß zu der Bevölkerung selbst nur als Ausnahmezustände, als locale Krankheit. Die unendlich dichte Bevölkerung Chinas, die fast in demselben Verhältnisse det des bevölkertsten Theiles von Europa, wie diese wieder zu der Nordamerikas ist an und für sich ein Beweis, daß in allen andern Ländern der Welt, die an die Bevölkerung Chinas nicht im entferntesten hinanreichen, nicht von absoluter, sondern nur von relativer übervölkerung die Rede sein kann, d. h. von einer Übervölkerung, die nur infolge der nicht vollkommen entwickelten und ausgebeuteten Naturkräfte des Landes und des Volks eine solche geworden ist.

Die Erfahrungen Europas bekunden in der Auswanderung selbst, daß die höchstbevölkerten Länder nicht diejenigen sind, in denen die Auswanderung am größten ist. Irlands Bevölkerung, die in keinem Verhältniß zu der Englands steht, liefert bei weitem den größten Theil der ganzen britischen Auswanderung. In den Rheinprovinzen und Westfalen hat sich herausgestellt, daß die Auswanderung fast

im umgekehrten Verhältniß zur Bevölkerung stand, daß aus den meistbevölkerten Regierungsbezirken die wenigsten, aus den wenigftbevölkerten die meisten Auswanderer wegzogen. *) In den Rheinlanden treten auch die Ursachen der relativen Übervölkerung in den positiv weniger bevölkerten Landestheilen klarer hervor, da gerade die Landestheile, in denen Industrie, Ackerbau und Viehzucht sich nebeneinander und harmonisch entwickeln (Düsseldorf und Aachen), bei der größern Volkszahl den geringern Drang zur Auswanderung zeigen; während im Gegentheil dort, wo der Ackerbau (Weinbau) fast allein vorherrscht und die Industrie mehr oder minder fehlt (Koblenz, Trier, Münster), die Bewohner, obgleich viel weniger enge zusammengedrängt, fich zur Auswanderung getrieben fühlen. In dem Kreise Solingen, Regierungsbezirk Düsseldorf, stieg die Bevölkerung 1832 bis zu 10007 und 1843 zu 11841 auf der Quadratmeile, und doch kam von der geringen Zahl Auswanderer des Regierungsbezirks Düsseldorf kaum der zehnte Mann auf den Kreis Solingen. In diesem Kreise herrschte die thätigste Industrie von ganz Preußen; überdies aber besaßen hier die Arbeiter selbst in Mehrzahl ein Stück Land, das jeder selbständig bebaute, sodas der bevölkertste Theil des Landes, der in seiner Industrie mit England wetteiferte, an Früchten hervorbrachte, was er bedurfte. Diese harmonische Entwickelung der Industrie und des Ackerbaus nebeneinander erlaubte fomit in einem nichts weniger als schönen und überfruchtbaren, sondern vielfach von Wald und Haide durchzoge= nen Berglande den höchsten Punkt der europäischen Bevölkerung zu erreichen, während in dem kaum weniger fruchtreichen Münsterlande und dem theilweise so herrlichen Rhein- und Mosellande von der mehr als um die Hälfte niedrigern Bevölkerungszahl zehn mal mehr Menschen nicht bestehen konnten und auswandern mußten.

Die Zahl der Einwohner eines Landes ist also nicht der entscheidende, nicht einmal der vorzugsweise zu berücksichtigende Erwägungsgrund, so oft davon die Rede, inwieweit ein Land übervölkert ist oder nicht. Die Culturstufe, die Beschäftigung der Bewohner kommt vor allem in Betracht, und dort wo Handel und Industrie, Ackerbau und Viehzucht Hand in Hand gehen, können noch heute drei mal und zehn mal so viele Menschen leben, als da wo Ackerbau vollkommen vorherrscht.

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Die Theoretiker der Nationalökonomie haben fast zu allen Zeiten und neuerdings mehr denn je den Gedanken der Übervölkerung" zu einem Gespenst für die Staatslenker und die Völker selbst gemacht. Malthus hat haarscharf mit Ziffern und Erempeln bewiesen, daß die Bevölkerung von 25 zu 25 Jahren in geometrischer Progression (1, 2, 4, 8, 16 u. f. w.) wachsen kann, während die Nahrungsmittel sich nur in arithmetischer Progression (1, 2, 3, 4, 5 u. s. w.) zu vermehren vermöchten. Somit muß ganz natürlich in einigen Jahrhunderten alle Welt verhungern, wenn die Nationalökonomie nicht in der Zeit dafür sorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Amerika wurde zum Beweise für diese Theorie aufgerufen, weil hier die Volksvermehrung die Theorie fast zu bestätigen schien. Die Einwanderung wurde dabei in der Weise unterschäßt, daß die 10000 Köpfe jährlich, welche Höhe die Einwanderung zu Malthus' Zeiten erstiegen hatte, nach 25 Jahren nur als 250000 angeschlagen wurden, während diese doch ebenfalls sich der Theorie nach

*) Im Jahre 1844-45 war das Verhältniß der Einwohnerzahl zur Auswanderung in den acht Regierungsbezirken von Rheinland und Westfalen folgendes:

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in geometrischer Progreffion hätten vermehren müssen und somit am Ende der Rechnung wenigstens auch in geometrischer Progression vermehrt in Anschlag hätten kom'men sollen. Ja diese Progression wurde gewiß überschritten, da die meisten Einwanderer rüstige junge Leute waren, die nach 25 Jahren in der Regel Kinder und Entel in Menge um sich herum versammelt sehen mußten. Die Bevölkerung von Illinois hat sich in 25 Jahren nicht verdoppelt, sondern in 40 Jahren versieben. facht (von 12282 Einwohnern im Jahre 1810, auf 851470 im Jahre 1850), und es ist kein Grund vorhanden, warum die Theorie, welche die Ausnahmeverhältnisse von Nordamerika als Grundlage ihres Systems aufstellte, nicht ebenso gut Illinois zur Grundlage desselben machte.

Wäre die Theorie der geometrischen Progression der Bevölkerung wahr, so würde nicht nur die Welt in einigen Jahrhunderten voll und übervoll und die Menschen würden gezwungen sein, einander Raum und Nahrung auf Tod und Le= ben streitig zu machen, sondern diese allgemeine und totale übervölkerung würde bereits, Gott weiß vor wie vielen Jahrhunderten, eingetreten sein, wenn Adam's und Eva's Nachkömmlinge Schritt mit der Theorie gehalten hätten.

Daß gegen eine solche reißende und drohende Vermehrung des Menschengeschlechts gar nichts, selbst nicht Colonien und Auswanderung in Massen Hülfe zu bieten im Stande sein würden, versteht sich von selbst; und so kommt die Theorie einfach zu dem Schlusse, daß die Polizei und Staatskunst der Vermehrung der Menschen Grenzen zu stecken versuchen müsse. Die Sache die Theorie nämlich ist nicht neu, und gerade daß sie nicht neu, sondern so alt ist, als die Welt ungefähr zurückdenken kann, beweist, daß sie auch nicht so gefährlich ist, als sie aussieht. Bu gewissen Zeiten werden in gewissen Kreisen der hohen und höchsten Cul. tur die Menschen nervenschwach, und bekommen dann ein Gefühl der Angst, als ob ihnen die Luft ausgehen könnte. Dies ist nicht nur gegenwärtig in London und Paris, ein wenig felbft in Wien und Berlin der Fall, sondern war zu Zeiten eben falls der Fall in Athen und in Rom. Auch hier hatte die hohe und höchste Ge= sellschaft auf der ähnlichen Culturstufe, unter ähnlichen gesellschaftlichen Lebensbedingungen wie gegenwärtig in London und Paris die schreckliche Angst, daß die Menschen sich zu rasch vermehren, daß, wie Sokrates sich bildlich ausdrückte, der Staatskörper, geschwollen" werden könne. Man dachte damals wie jest daran, wie diesem Übel vorzubeugen und abzuhelfen sei. Praktischer als die Theoretiker der Neuzeit, schlugen die Philosophen des Alterthums wurzelgreifende Mittel gegen die Übervölkerung vor, und zwar Platon (Resp. 1. V) einfach die Aussehung und den Hungertod der Neugeborenen, und Aristoteles (Polit. VII, 16) die Abtreibung_der unreifen Frucht, während Malthus sich doch noch damit begnügt, der Ehe und Fortpflanzung nur soviel heilsame Hindernisse als immer möglich in den Weg zu legen.

Die Familienstammbäume zeigen in der Regel durch einige oder mehre Generationen hindurch vom Stammvater her eine Progression, welche die von Malthus angenommene weit überbietet, bis dann aber ebenso schnell rückschreitend der Stammbaum zulegt wieder in ein paar Ausläufern endigt. Die Geschichte der Menschheit und der Völker bekundet in Bezug auf die Bevölkerung der einzelnen Länder ein Steigen und Fallen, ein Wachsen und Schwinden in ganz ähnlicher Weise wie die Stammbäume der einzelnen Familien.

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Der Ursachen der raschen Vermehrung sowol in der Familie als bei den Völkern sind viele. Jugend, Kraft, Gesundheit, Sorgenfreiheit, eine nicht gestörte Entwickelung, volle Befriedigung aller naturgemäßen Bedürfnisse, Vermeidung aller unnatürlichen Bedürfnisse und aller unnatürlichen Mittel zur Befriedigung der natürlichen, Harmonie zwischen geistiger und körperlicher Thätigkeit gehören zu den Bedingungen, unter denen die Menschen, die Familien und die Völ ker sich in unberechenbarer Weise vermehren können und vermehren. Mitunter aber treten auch in Beziehung auf die Vermehrung Widersprüche ein, die sich schwer erklären lassen, die zu den Geheimnissen der Schöpfung gehören. Die

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